Dienstag, 18. Mai 2010

Odyssee Europa

DAS hätte ich gerne gesehen. Ich beschäftige mich ohnehin mit Nachdichtungen klassischer Mythen, ich habe es kaum geglaubt, als ich von einem Theaterprojekt hörte, wo sechs neue Stücke zum Thema "Odyssee" produziert werden. Leider habe ich auch ziemlich bald festgestellt, dass ich es zeitlich und finanziell schlecht rechtfertigen konnte, ein ganzes Wochenende dafür zu opfern.

Aber zum Glück fürs Studentenbudget hat man gleichzeitig eine Textfassung der Stücke herausgegeben; ich habe sie also wenigstens lesen können, obwohl ich es nicht geschafft habe, sie anzuschauen.

Und sie sind zum größtenteil ziemlich gut, finde ich, auch wenn sie etwas "experimentell" sind für mein Geschmack. Mit Enda Walsh's "Penelope", wo die letzte überlebenden Freier in einem leeren Schwimmbad um Penelopes Gunst wie in einem "reality tv" Programm werben, konnte ich wenig anfangen.

Leser, die das Werk von Emine Sevgi Özdamar schon kennen, werden in "Perikızı. Ein Traumspiel" viele bekannten Themen und Motiven wiederfinden. Einerseits ist das ein Bisschen enttäuschend (manchmal will man sehen, dass ein Autor auch über völlig anderen Themen schreiben kann), aber das, was ihr Schreiben anziehend macht, bleibt immer noch frisch. Ihr Stück ist auch das einzige, der auf das Thema "Reisen/Irrfahrt" anstatt auf die konkrete Handlung und Figuren der Odyssee konzentriert.

Am interessantesten fand ich "Das elfte Gesang" von Roland Schimmelpfennig, "Sirenengesang" von Péter Nádas und "Odysseus, Verbrecher" von Christoph Ransmayr. (Die erste zwei werden wahrscheinlich aufgrund eines merkwürdigen Verschwimmen von Figurenrede und Regieanweisungen Stoff für meine Hausarbeit bieten, aber mehr dazu ein anderes Mal.)

Was mir bei den Stücken besonders auffällt, ist die thematische Betonung und die meist negative Auffassung von Odysseus. In der Literatur des 20. Jahrhunderts drückt die Figur von Odysseus sehr oft die Erfahrung von Exil und Heimatlosigkeit aus. In diesen Stücken aber wird der Held des Odyssee generell sehr kritisch betrachtet: als der gewissenslose Krieger, der bei seiner Heimkehr die Gewalt mit sich bringt und es auf die neue Generation überträgt. Auch die Gestorbenen und Zuhausegebliebenen treten viel deutlicher in der Vordergrund: all diejenigen, die die Folgen des Krieges leiden mussten, die, die keine Stimme oder eigene Identität mehr haben. Diese Veränderung in der Interpretation der Odyssee sagt viel über die Probleme, die uns gerade beschäftigen, aus.

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